Die Falte in der Raumzeit

Ein Begleitwort zur Ausstellung superflat im Raum dreizehnzwei
von Ingo Nussbaumer

Striche und Linien von unterschiedlichen Dickegraden sparsam auf eine Fläche verteilt, in einem bestimmten sich schließenden Zusammenhang gebettet, sozusagen zu einem Gefüge verbunden, oder einfach auch nur lose in bestimmten Abständen nebeneinandergestellt, vermögen einen Eindruck von räumlicher Tiefe zu erwecken: Stärkere, mächtigere Linien rücken nach vor, dünnere, schwächere schieben sich in dem sich daraus entfaltenden imaginären Bildraum zurück. (Ein solcher sollte nicht mit einem illusionistischen Bildraum verwechselt werden.)   
Fügen sich die Linien zu einem Gebilde, rücken sie an bestimmten Positionen fast wie berührend oder auch partiell überlagernd aneinander, so vermag sich zum Eindruck räumlicher Tiefe noch ein zeitlicher des Ablaufs zu stellen, der sich mit dem Raum verschränkt zu einer Falte in der Raumzeit. Einen solchen Eindruck können uns die auf Leinwand gearbeiteten Liniengebilde von Martina Steckholzer vermitteln, die sich mit Arbeiten zweier anderer Künstler fe (Manuel Knapp und Nora Stalzer) im Raum Dreizehnzwei der Ausstellung superflat koordinieren. (1)
In der Betrachtung eines Gegenstandes spielen nicht nur sensorische , d.h. sinneswahrnehmliche, sondern auch motorische (bewegungsimpulsive) Leistungsaspekte der Augen (wie des Kopfes und des übrigen Körpers) eine Rolle. Der Gegenstand wird nicht durch einen quasi starren und unbeweglichen Blick optisch ergriffen, sondern das Auge ?hinterläßt' eine Spur, wandert über den Gegenstand in einer je differenten Bewegungsgestalt. Daraus zeigt sich die prinzipielle Tendenz, aus mehreren Richtungen des Blicks einem Gegenüber zu begegnen. Diese Bewegungsgestalt ist nicht nur ein Resultat aus der Willkür des Betrachters fe , sondern erfährt ebenso eine gewisse Lenkung aus der sich darbietenden Gestalt des Gegenstandes, der sich wiederum in einem Umgebungsraum befindet, aus dem beispielsweise einfallendes Licht sein Gesamtbild mitformt.
Denken wir uns einen solchen Gegenstand aus zwei oder mehreren Blickwinkeln heraus zur Beobachtung gebracht, ein Umstand, dem wir in alltäglichsten Bewegungssituationen begegnen, so entfaltet sich daran ein Wechselspiel zwischen momentan Sichtbaren und Verborgenen: Das, was wir von dem Gegenstand aus einer bestimmten Position wahrnehmen, verbirgt sich unter Umständen ganz oder teilweise aus der anderen Situation der Betrachtung. Dafür erschließt sich von diesem etwas Neues, Anderes, das wiederum sich dem momentanen Blick verbirgt, wenn die örtliche Lage entsprechend gewechselt wird. Verbirgt sich ein Teil des Gegenstandes aus der aktuellen Wahrnehmung , so vergegenwärtigt sich uns dieser Part doch aus der Erinnerung , so daß sich uns aus der Erfahrung , welche Wahrnehmung wie Erinnerung umgreift, ein Ganzes des Gegenstandes formt.
In der Realisierung eines solchen Erfahrungsschrittes tätigen wir eine neue Erfahrung, die als Erfahrung der Erfahrungsbildung auf eine nächste Stufe klettert. Eine solche Erfahrung der Erfahrungsbildung wird zum Thema der Kunst, wenn - wie in dem Bild beispielsweise "der Eifelturm" von Robert Delaunay (zu Beginn des 20. Jahrhunderts) - sich verschiedene Richtungen des Blicks, verschiedene perspektivische Zugänge wie Vogel- und Froschperspektive, verschiedene räumliche Lagen und Distanzen zu einem Ganzen des Bildes und Blicks sich vereinen. Die frühe Moderne entwickelt darin ihren gefalteten, ihren sich selbst ausdifferenzierenden Blick der Raumzeit, gekennzeichnet als kubistische Periode und als entscheidender Schritt zur abstrakten Konfiguration.
Denken wir uns das triviale Eingangsbeispiel erweitert, in einem Gedankenexperiment auf folgende Art modifiziert: Der Gegenstand habe nun die Fähigkeit, sich aus sich heraus zu verändern, so daß er das, was sich zuvor an ihm nur aus einem Wechsel der Betrachtungspositionen heraus darlegte, er selbst darzubieten imstande ist, er das, was er sonst nur durch Ortsveränderung dem Betrachter fe preisgibt, diesem aus einer örtlichen Position heraus stellt. Dann wären die verschiedenen Richtungen des Blicks , die verschiedenen möglichen Blickwinkel im Gegenstand gewissermaßen räumlich konzentriert und in einem zeitlichen Nacheinander aus einer Position heraus zur Erfahrung potentialisiert. Einem solchen Gegenstand schreiben wir unter bestimmten Voraussetzungen eine gewisse Form von Eigenaktivität zu, welche eine spezifische Interaktion zwischen Gegenstand und betrachtender Person ermöglicht und den Ansatz zu einer Falte in die Raumzeit legt.
Der zeitliche Aspekt schiebt sich in diesem Beispiel gewissermaßen vor den räumlichen, der natürlich auch vorhanden ist. Partiell begegnen wir solchen Situationen auch in den bereits zur alltäglichen Erfahrung gewordenen Bildern der Kinematographie, in Bildern zeitgenössischer Medien. Doch darauf ist hier im besonderen nicht einzugehen. Das Beispiel werde noch einmal erweitert. Das, was sich uns vom Gegenstand in einem zeitlichen Nacheinander präsentiert, was sich uns von ihm in räumlich konzentrierten Blicken in einer zeitlichen Aufeinanderfolge darlegt, werde nun wieder aufgefächert, präsentiere sich wie aufgeklappt im Raum. In einer solchen Situation verschmelzen Richtungen und Blicke des Nacheinanders in eine Gleichzeitigkeit oder Simultanität . Mit einem Blick wird es möglich, das, was sich aus dem Wechselspiel von momentan Nichtsichtbarem und Offenbarem nur in einer Sukzession sich darbot, zu umgreifen . Ein solches Gebilde, das sich selbst räumlich von seinen ansonst zeitlich differenten Augenblicken, von seinen verschiedenen Richtungen und Blicken auf einmal darlegt, heiße hier eine Falte in der Raumzeit .

Für den Betrachter fe eines solchen Gebildes, das in einem Kunstwerk objektive Gestalt angenommen haben kann, hat dies Konsequenzen. Wir werden in die Lage versetzt, das Ungleichzeitige in einem Blick in Gleichzeitigkeit zu verwandeln. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen steht im Kontext eines intuitiven Momentes, d.h. einem Augenblick, in dem ein gleichzeitiges Erfassen ansonst zeitlich auseinandergedrifteter Teile sich zu einer Form der Spontanität erhebt. Hier handelt es sich in dem Ausdruck "Intuition" nicht um eine wie auch immer geartete Gefühls-lage oder Ahnung, sondern, wie der Gebrauch sich aus der klassischen Philosophie und fortgeschrittenen Kunsttheorie darbietet, als Wahrnehmungs- und Erfahrungsform, in der sich eine Simultanität des Sukzessiven offenlegt.

Der Blick erfährt durch die Simultanität des Sukzessiven selbst eine Art der Faltung. Er wird zu einem in sich gefalteten und sich potentiell entfaltenden Blick, da er die Möglichkeiten einer Ausdifferenzierung bereits in sich aufgenommen hat. Ein Werk, das einen solchen Blick umgekehrt veräußert, lässt sich als die Darstellung einer Falte in der Raumzeit sprachlich fixieren, welche die Fähigkeit in sich birgt, die sukzessiven Erfahrungsmomente des Subjektes so zu verdichten, dass sie zu einem intuitiven Augenblick auf der Ebene des Objektes verschmilzt, d.h. zu einem Ganzen ansonst auseinandergelegter raumzeitlich verschobener Teile. In einen solchen Raum tritt moderne Kunst und treten Bemühungen junger zeitgenössischer Künstler fe , welche sich eine Koordination moderner und traditioneller Medien zunutze machen. Wie sich die sinneswahrnehmlichen Leistungen der Augen mit den Eigenbewegungen der Augen koordinieren, so werden zunehmend die Erfahrungen mit modernen und traditionellen Medien verschränkt und fließen in die Darstellungsformen imaginärer Bildräumlichkeit.                                     
Die Ausstellung superflat verdeutlicht das auf unterschiedliche Art. Imaginäre Bildräumlichkeit erlaubt flächiges Nebeneinander mit räumlicher Tiefenstruktur so zu koordinieren, dass die Autonomie der Bildfläche gewahrt bleibt, ohne in einen illusionistischen Bildraum abzugleiten. Die Autonomie der Bildfläche ist ein wesentliches Glied in der Kette der Autonomie der Elemente, welche mit dem Flächenraum der abstrakten Malerei streng gekoppelt war und eigenen phänomenologischen Kriterien (wie Flächenspannung) folgte. Bleiben die Elemente als selbständige Bahnen im Ganzen des Bildgefüges erhalten oder lesbar, so vermag sich eine eigene Dynamik des Bildraumes aus dem Wechselspiel von Flachraum und Tiefenraum dem Blick zu öffnen. Der Betrachter fe kann Nahes und Fernes aus der Veranlagung der Elemente räumlich konzipieren und zugleich das selbständige Element im Spannungsfeld der Fläche verfolgen.
Die Verschränkungen imaginärer Bildräume mit dem realen Umgebungsraum bilden eine eigene Note im praktischen wie theoretischen Diskurs der Ultramoderne. Darin zeigt sich, inwieweit in einer Ausstellung Objekte der bildenden Kunst nicht bloß nebeneinander und nacheinander aufgehängt und aufgespannt sind, sondern einen dynamischen Raum in Gang bringen, in dem der Betrachter fe sich als Teil und Ganzes zur Erfahrung bringen kann. Der dynamische Raum ist ein Raum, in dem physische wie mentale Komponenten verschmelzen, welcher die Dimension der Kunst evoziert.

 

Ingo Nussbaumer
Künstler und Kunsttheoretiker. Lebt und arbeitet in Wien. Publikationen unter anderem:                  
Malerei als Proposition (Triton Verlag, Wien 1997)
Die Idee des Bildes - als Beitrag zu einer Noetik der Kunst (Edition Splitter, Wien 2002)

1 Das hochgestellte Zeichen " fe " am Ende des Ausdrucks "Künstler" kennzeichnet, daß der Ausdruck zugleich "Künstlerin" meint. Es steht für " feman ", eine Zusammensetzung aus "female" und "man". "Feman" wurde von Gudrun Wolfgruber und mir entwickelt, als einfache Art der Kennzeichnung sowohl des männlichen als auch weiblichen Geschlechts. Die Bedeutung des Femanzeichens liegt in erster Linie darin, den Sprachfluß (in schriftlichen Texten) nicht durch irritierende Endungen oder durch die Anführung zweier Geschlechter mittels Schrägstrich zu stören, da es stumm gelesen werden kann.